N. Wachsmann: Gefangen unter Hitler

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Titel
Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NSStaat.


Autor(en)
Wachsmann, Nikolaus
Erschienen
München 2006: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
624 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Urs Germann, Schweizerisches Bundesarchiv

Bis weit in die Nachkriegszeit prägte das apologetische Bild, das die deutsche Juristenschaft von ihrer eigenen Vergangenheit zeichnete, die Auseinandersetzung mit der Justiz und dem Strafvollzug des NS-Regimes. Auch die historische Forschung zeigte lange kaum Interesse an den «normalen» Gefängnissen des Dritten Reichs und richtete den Fokus auf den Terror von Gestapo und SS. Erst in den 1980er Jahren rückten nebst den Juden und politisch Verfolgten vermehrt die «vergessenen Opfer» des NS-Regimes ins Blickfeld: Homosexuelle, «Asoziale», «Zigeuner» oder als «Gewohnheitsverbrecher» verwahrte Kleinkriminelle. Dieser partiellen Perspektivverschiebung folgt auch Nikolaus Wachsmanns Gesamtdarstellung des Strafvollzugs des NS-Staats, die 2004 auf Englisch erschien und inzwischen mehrfach ausgezeichnet wurde.

Provokativ hält Wachsmann dem bekannten Bild des «SS-Staats», aber auch jüngsten Trends, die terroristische Seite des Regimes in den Hintergrund zu rücken, die statistische Tatsache entgegen, dass bis 1943 die Zahl der sich im Justizvollzug befindenden Männer und Frauen die Zahl der KZ-Häftlinge – zeitweise markant – überstieg. Zu Recht – und mit Erfolg – wagt Wachsmann den Versuch, die zum Geschäftsbereich der Justiz gehörenden Vollzugsanstalten als wichtige Elemente des Terrorapparats von Staat und Partei zu begreifen und zugleich die verbreitete These eines institutionellen Gegensatzes von Justiz und Polizei im «Doppelstaat» (Fraenkel) mit Blick auf das Gefängniswesen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. In neun Kapiteln präsentiert Wachsmann eine konzise und mit illustrativen Fallbeispielen ergänzte Übersichtsdarstellung des Strafvollzugs im NS-Staat, die zwei miteinander verwobenen Entwicklungssträngen folgt: einerseits der sich radikalisierenden Kriminalpolitik des NS-Staates, andererseits dem sich sukzessive verschärfenden Vollzugsalltag in «Hitlers Gefängnissen».

Ein knapper Rückblick auf den autoritär-repressiven Strafvollzug des Kaiserreichs und die pädagogisch ausgerichteten Gefängnisreformen der Weimarer Republik verdeutlicht den Bruch, aber auch die Kontinuitäten, die die «Machtergreifung» im Bereich des Strafvollzugs bedeutete. Mit weitgehender Loyalität – exemplarisch verkörpert in Reichsjustizminister Gütner – unterstützte die Justiz nach dem 30. Januar 1933 den Kampf des NS-Regimes gegen politische Gegner, religiöse Minderheiten, Homosexuelle und schliesslich gegen Juden: neu geschaffene Tatbestände sowie die Strapazierung und Durchbrechung des Legalitätsprinzips liessen die deutschen Richter haufenweise Urteile produzieren und die Zahl der Strafgefangenen in die Höhe schnellen. Das Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933, das die Sicherungsverwahrung und Kastration von rückfälligen (Sexual-) Tätern ermöglichte, stand zwar in direkter Kontinuität zu den Reformbestrebungen der Weimarer Republik. Die Verschärfung der Vorlage und die extensive Anwendung des Gesetzes stellten jedoch einen wichtigen Schritt in Richtung eines rassistischen Feindstrafrechts dar, das zwischen Angehörigen der «Volksgemeinschaft » und «Gemeinschaftsfremden» unterschied.

Deutlich erkennbar wird die Abkehr vom Resozialisierungsgedanken der 1920er Jahre in den Gefängnisvorschriften von 1934, wonach die Strafe primär ein «empfindliches Übel» darstellen sollte. Die Haftbedingungen in den Strafanstalten verschlechterten sich nach 1933 denn auch zusehends, nicht zuletzt wegen der chronischen Überfüllung und der Gewalt seitens der Aufseher. Allerdings sollten die Häftlinge erst im Zeichen des Vierjahresplans gezielt zur Zwangsarbeit herangezogen werden. Zur «Strafanstalt der Zukunft» erklärte das Reichsjustizministerium dagegen die Strafgefangenenlager im Emsland, welche die Justizverwaltung von der SS übernahm und in denen deutlich strengere Haftbedingungen als in den Gefängnissen herrschten. Die Justiz unterstützte zudem die «vorbeugende Ver brechensbekämpfung» durch Himmlers Polizei, in der die Forschung lange eine Konkurrenz des «Massnahmenstaats» gegenüber der justiziellen Strafverfolgung gesehen hat. Tatsächlich musste sich die Justiz wiederholt gegen Einflussnahmen der Polizei auf das Gefängnis wesen wehren. Wie Wachsmann betont, kooperierte sie allerdings oft freiwillig mit dem Polizeiapparat: nicht nur tolerierten die Strafverfolgungsbe hörden den staatlichen Terror, sie ermöglichten auch die Einsperrung von Schutzhäftlingen in Haftanstalten. Schliesslich meldeten die Gefängnisse regelmässig Sträflinge vor der Entlassung der Polizei zur Versetzung in Schutzhaft.

Nach Kriegsbeginn setzte eine Radikalisierung der Justiz ein, die bald zur (Selbst-)Auflösung des «Normenstaats» führen sollte. Bereits im September 1939 bezeichnete Gürtner die Richter als «Soldaten der inneren Front», deren Aufgabe die «Aussonderung hetzerisch und verbrecherisch eingestellter Elemente» und das Verhindern eines zweiten «Dolchstosses» sei. Zeichen dieser Radikalisierung waren die «Verordnung gegen Volksschädlinge» vom September 1939, die Verschärfung der Strafen gegen Jugendliche, die Ausweitung der Zuständigkeit der Sondergerichte und des Volksgerichtshofs sowie extralegale «Urteilskorrekturen» mittels polizeilicher Exekutionen. Gleichzeitig begann die Justiz, stärker in Bezug auf die Zugehörigkeit zur «Volksgemeinschaft» zu differenzieren: konnten bloss gestrauchelte «Volksgenossen» mit einem privilegierten Erstvollzug oder einer bedingten Entlassung rechnen, erlaubte die im Dezember 1941 erlassene «Polenstrafrechtsverordnung » die schrankenlose Anwendung der Todesstrafe gegen Polen (und polnische Juden) und markierte so den Beginn einer Verpolizeilichung der Strafverfolgung in den besetzten Gebieten. Eine weitere Verschärfung der Repression, die sich in einer markanten Zunahme der Todes- und Freiheitsstrafen niederschlug, zeichnete sich nach Hitlers justizkritischer Reichstagsrede vom 26. April 1942, der personellen Auswechslung des Reichsjustizministeriums und der Einführung der «Richterbriefe» ab. Auch hier unterstreicht Wachsmann den aktiven Part der Justiz: weiterhin besassen die Richter ein beachtliches Mass an Unabhängigkeit und hatten kaum mit einer Absetzung zu rechnen. Durch den Krieg und die Intensivierung der Strafverfolgung verschlechterten sich zugleich die Lebensbedingungen in den Gefängnissen: Essensrationen und die medizinische Versorgung wurden gekürzt, «Fremdvölkische» im Vollzugsalltag massiv benachteiligt und die Gefängnisse in «Straffabriken» umgewandelt. Insgesamt starben während des Krieges in Justizanstalten und -lagern, so Wachsmanns Schätzung, 20 000 Insassen – Hingerichtete und systematisch ermordete Häftlinge nicht mitgerechnet.

Ein eigenes Kapitel widmet Wachsmann der Ermordung von Justizgefangenen, die 1940/41 mit der Ermordung «verbrecherischer Geisteskranker» im Rahmen des T4-Mordprogramms einsetzte. Im September 1942 einigten sich der neue Reichsjustizminister Thierack mit Himmler über die «Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug zur Vernichtung durch Arbeit». Bis im Frühjahr 1943 überstellte die Gefängnisverwaltung knapp 15 000 Sicherungsverwahrte, «Fremdvölkische», Juden sowie Roma und Sinti in die Konzentrationslager. Bis im Februar 1944 selektierte die Geheimabteilung XV des Reichsjustizministeriums anhand individueller Fragebögen weitere 6000 «asoziale» Häftlinge, die der SS gemeldet wurden. In den Kriegsjahren mutierten die Strafanstalten aber auch selbst zu «Todesfabriken», nahm doch die Zahl der zu vollstreckenden Todesurteile massiv zu. In den letzten Kriegswochen mündete die NS-Rechtspflege schliesslich in eine fanatische Endtagsjustiz, während gleichzeitig eine grosse Zahl von Sträflingen Opfer von Zwangsmärschen, willkürlichen Hinrichtungen und systematischen Massakern wurde.

Wachsmanns Gesamtdarstellung des «Justizterrors» im NS-Staat überzeugt insbesondere durch ihren synthetischen Charakter und die Souveränität, mit der die komplexe Materie und das beeindruckende Quellenkorpus in flüssig lesbarer Form präsentiert werden. Dass diese Lesefreundlichkeit auch einen gewissen Preis hat, zeigt sich darin, dass die differenzierte Auseinandersetzung mit Forschungspositionen und quellenkritische Erläuterungen im Haupttext weitgehend unterbleiben. Ungeachtet dieses mehr formalen Einwands liegt das grosse Verdienst derUntersuchung darin, dass sie das Wechselverhältnis zwischen der NS-Kriminalpolitik und dem Strafvollzug systematisch auslotet und die gewonnenen Erkenntnisse in den Kontext der Herrschaftsstruktur des NS-Staats, aber auch der Geschichte des Strafvollzugs stellt. Wachsmann vertritt dabei eine Interpretation, die einerseits die «gewaltige Kluft» unterstreicht, die sich nach 1933 zwischen der Strafpraxis in Deutschland und den liberalen Staaten des Westens auftat, andererseits aber zu Recht auf die beunruhigende Tatsache hinweist, dass die Entwicklung der NS-Justiz letztlich als «äusserst radikaler Ausdruck» einer genuin modernen Kriminalpolitik verstanden werden muss, die bereits im 19. Jahrhundert konzipiert und auch in nicht-totalitären Staaten implementiert wurde.

Zitierweise:
Urs Germann: Rezension zu: Nikolaus Wachsmann: Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NSStaat. München, Siedler, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 1, 2008, 200 S. 120-122.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 1, 2008, 200 S. 120-122.

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